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Mittwoch, 11. Juli 2012
Blatt / Kategorie: Liebe
gedankenmaler, 18:21h
Hier ein paar Thesen zur Sterbehilfe. Wenn ich im folgenden davon ausgehe, dass "die Sterbehilfe verboten ist", dann beziehe ich mich damit auf die Tatsache, dass sie sehr stark eingeschränkt ist. Weitergehende Differenzierungen wie die zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe oder die Abgrenzung zur Beihilfe zur Selbsttötung oder unterlassener Hilfeleistung sind nicht Gegenstand dieser Auseinandersetzung.
Ich schreibe diesen Beitrag darüber hinaus auch als Europäer und Weltenbürger, der den Verbot der Sterbehilfe überall dort hinterfragt, wo dieses Verbot gegeben ist. Einen aktuellen Fall gibt es übrigens in England. Dort versucht Tony Nicklinson gerade ein Recht auf Todesspritze vor Gericht durchzusetzen. Seine Familie unterstützt ihn dabei.
1. Liebe kann sich in den unterschiedlichsten Formen ausdrücken.
2. Es ist der Mensch, der Verbote aufstellt. Für jedes Verbot, das der Mensch dem Menschen auferlegt, bedarf es eines guten Grundes. Gegner der Sterbehilfe stehen in der Pflicht der Rechtfertigung der von ihnen befürworteten, für alle gültigen Einschränkung. Die Behauptung, es gäbe kein Recht auf den Tod, reicht nicht aus. Vielmehr muss plausibel gemacht werden, mit welchem Recht man das Verbot aufstellt.
3. Es wäre dabei vor allem die Frage zu beantworten, mit welchem Recht sich ein Dritter in die Belange zweier Menschen einmischen darf, die sich in ihrem Interagieren vollkommen einig sind. Reicht dafür eine von Menschen geschaffene Satzung aus oder bedarf es dafür nicht vielmehr die Berufung auf göttliche Vollmacht? Mit welchem Recht kann eine Gesellschaft ihre Satzung über die Satzung stellen, die zwischen zwei Menschen in Frieden und Einigkeit ausgehandelt wurde, zumal wenn es sich dabei noch um eine persönliche und intime Angelegenheit handelt?
4. Die öffentlichen Diskussionen um Sterbehilfe gehen häufig einher mit dem Glauben, dass es ein "richtig" und ein "falsch" gibt, das für alle Menschen in gleicher Weise gültig ist. Es wird versucht, die richtige Sichtweise auf "das Leben" und die richtige Sichtweise auf "den Tod" herauszuarbeiten. Dieser Ansatz ist aber grundsätzlich fragwürdig und enthält im Keim bereits das Potential zur Intoleranz und Bevormundung. Eine Begründung für das Verbot der Sterbehilfe muss unabhängig von der eigenen Sicht auf "das Leben" und "den Tod" geschehen. Diese philosophischen Fragestellungen sind von jedem Menschen selbst zu beantworten. Die Bewertung des Lebens und des Todes, der Freude und des Leids, sind Bewertungsakte, die in den Zuständigkeitsbereich des einzelnen Individuums gehören.
5. Mit Blick auf die Religions- und Glaubensfreiheit bedeutet die gegenwärtige Regelung, dass die Religionsfreiheit empfindlich berührt wird. Es wird zwar formal die Freiheit gewährt, jede mögliche Position zu vertreten, die man zum Leben und seinen Mysterien haben kann, es werden aber ausgerechnet dort die aus den eigenen Überzeugungen hervorgehenden Handlungsabsichten eingeschränkt, wo sie – im Unterschied zu vielen anderen Problemthemen und Streitfällen des religiösen Lebens – in erster Linie nur den Handelnden selbst betreffen. Was ist aber die Religionsfreiheit wert, wenn man sie in wesentlichen Punkten nicht ausleben darf?
6. Sofern man geltend machen will, dass ein Suizid keine Handlung sei, die einen vornehmlich selbst betrifft, weil es ja Menschen im Umfeld gibt, die darüber traurig sein könnten oder in irgend einer anderen Art davon berührt und beeinflusst werden, so ist dazu anzumerken, dass man damit jegliche Abgrenzung und Eigenständigkeit des Individuums wegrelativiert hat. Ich persönlich bin der Meinung, dass hier gewisse "natürliche Ich-Grenzen" übersehen werden, wahrscheinlich wohl mit Absicht. Ohne die emotionalen Bindungen leugnen zu wollen, die von Mensch zu Mensch existieren, kann ich diese Sichtweise nicht nachvollziehen. Wer versteht, dass der einzelne Mensch ein Recht darauf hat, auf eine lange, risikoreiche Wanderung zu gehen und im Stile eines Abenteurers sogar sein Leben dabei auf's Spiel zu setzen, der versteht auch, dass der Mensch das Recht auf das große Abenteuer des Todes hat. Emotionale Bindungen, die von außen an ihn herangetragen werden, mag er freiwillig berücksichtigen, aber man kann ihn nicht dazu zwingen.
7. Wieso wird das Leben im allgemeinen positiv bewertet und der Tod im allgemeinen eher negativ? Vergleicht man die Übergangsprozesse, also das Gebären und das Sterben, zeigt sich eine gewisse Ähnlichkeit in Bezug auf das Leid und die Schmerzen, die hier mit im Spiel sind. Es zeigt sich eine gewisse Symmetrie, die den Schluss auf eine größere Symmetrie nahelegt. Unter dem Schutz der Religions- und Glaubensfreiheit steht es jedem Individuum offen, eine größere Einheit zwischen Leben und Tod anzunehmen.
8. Eine stumpfe Lebensbejahungsphilosophie, die nur die Denkregeln "Je mehr (länger), desto besser" in Bezug auf das Leben und "Je weniger (später) desto besser" in Bezug auf den Tod kennt, ist wiederrum nur eine von vielen möglichen Philosophien. Ich persönlich sage, sie wird der Wirklichkeit und vor allem dem Leben nicht gerecht.
9. Es ist erlaubt, dem lieben Gott eine Welt zuzutrauen, in der einem nach dem physischen Tod etwas Gutes, Schönes und Liebevolles erwartet. Dieser Glaube, der wiederrum durch die Religionsfreiheit geschützt ist, muss nicht auf Kosten des diesseitigen Lebens gehen. Es wird damit nicht gesagt, dass man sein diesseitiges Leben leichtfertig wegwerfen sollte. Sowohl das Leben als auch der Tod können als heilig betrachtet werden. Es muss nicht das eine gegen das andere ausgespielt werden.
10. Sofern das Leben und der Tod "normal" bzw. "natürlich" sind, so kann ohne weiteres auch die Sterbehilfe als "normal" oder "natürlich" betrachtet werden.
11. Es geht nicht um "Würde", es geht um Würde-Empfinden. Es geht nicht um eine vermeintlich objektive "Würde des Menschen" oder "Würde des Lebens", die irgendwelche geistigen Autoritäten für alle verbindlich festlegen. Es geht um das Würde-Empfinden des einzelnen. Der einfache und ungebildete Mensch hat nicht nur Mitspracherecht in dieser Frage, er hat das Definitionsrecht in Bezug auf sich selbst.
12. Man beachte den Unterschied zwischen einvernehmlichen Sex und dem grausamen Verbrechen einer Vergewaltigung. Der enorme Unterschied in der emotionalen Qualität und Wertdimension geht mit nichts anderem einher als dem auf den ersten Blick unscheinbaren Parameter der Freiwilligkeit. Was in dem einen Fall ein freudiges Ereignis ist, ist in dem anderen Fall ein abscheuliches und tragisches Verbrechen mit psychischen Langzeitfolgen für das Opfer.
Der "freie Wille" des einzelnen und die Forderung nach seiner Geltung und Respektierung ist also sehr ernst zu nehmen. Das gerade erwähnte Beispiel legt einen tiefen Zusammenhang zwischen dem freien Willen und dem Würdeempfinden des Individuuums nahe. Die Respektierung der "Würde" und die Respektierung des freien Willens und des Wunsches nach Selbstbestimmung sind so eng miteinander verzahnt wie die zwei Seiten einer Medaille.
13. "Die Freiheit des einen hört da auf, wo die Freiheit des anderen anfängt." Inwiefern schränkt ein Mensch, der den eigenen Tod wählt, die Freiheit eines anderen Menschen ein? Wieso soll es so selbstverständlich sein, dass eher dem Sterbewilligen die Einschränkung seiner Freiheit zugemutet wird? Wer steht auf der anderen Seite und müsste sonst eine Einschränkung hinnehmen, die für einschneidender und daher unzumutbar gehalten wird? Geht diese Einschränkung der anderen Seite dabei unmmittelbar vom Sterbewilligen aus?
14. Zur Veranschaulichung der philosophischen Willkür in der gegenwärtigen Rechtslage sei ein Gegenszenario entworfen: Eine Gesellschaft, in der die Unterlassung der Sterbehilfe als Unmenschlichkeit und Rechtswidrigkeit aufgefasst wird. Sie ist eine Straftat wie es im selben Staat selbstverständlich auch die Unterlassung der 1. Hilfe ist. Weiterhin wird der Versuch, einen Menschen vom Suizid abzuhalten, formal als Nötigung und Straftat bewertet.
Ich persönlich halte dieses Szenario für in keinster Weise unmenschlicher als die jetzige Realität. Im Gegenteil, ich halte es sogar für menschlicher und auf diese in meiner Persönlichkeit gründende Wahrnehmungsweise habe ich ein Recht. Trotzdem strebe ich eher die "Mitte" zwischen diesem Gegenszenario und der jetzigen Rechtslage an. Es kann selbstverständlich niemand dazu gezwungen werden, Sterbehilfe zu leisten. Auch Ärzte dürfen niemals diesem Zwang ausgesetzt werden – genausowenig wie sie daran gehindert werden dürfen, wenn sie freiwillig dazu bereit sind. Des weiteren sollte man natürlich auch keinen Menschen dafür bestrafen, wenn er aus Gewissensgründen einen Menschen vom Suizid abhalten wollte.
15. Die Gesellschaft bedarf keiner über das Prinzip des freien Willens und der Selbstbestimmung hinausgehende Übereinkunft bezüglich "objektiv gegebener Werte". Der Versuch, über dieses Prinzip hinaus zu gehen, führt zu Intoleranz, Bevormundung und Einschränkung der Religionsfreiheit. Siehe dazu auch das Projekt "Weltethos" und die "Goldene Regel": Verhalte Dich gegenüber anderen so, wie Du es selbst wünschen würdest.
16. Ein offenerer Umgang mit dem Thema Freitod in der Gesellschaft könnte diesen in einigen Fällen auch verhindern, weil Menschen, die diesen Weg für sich erwägen, leichter Vertrauen finden und dann eher Gesprächspartner suchen. Wer auf eine absolute Bejahung der Selbstbestimmung vertrauen kann und keine Freiheitsberaubung befürchten muss, kann sich nicht nur aus taktischen Gründen leichter öffnen, sondern er kann auch menschlich ein intensiveres und liebevolleres Verhältnis zu seinem Gesprächspartner entwickeln.
17. Die Politik hat grundsätzlich immer die Pflicht, ein differenziertes Eingreifen zu versuchen und darf dafür keine Kosten und Verwaltungsarbeit scheuen. Sie muss versuchen, für diejenigen, die von einer Freiheit profitieren, diese zu gewähren, während sie diejenigen, die darunter leiden könnten, mit angemessenen Mitteln beschützt.
18. Das Totalverbot einer Freiheit zur Vermeidung von unerwünschten Nebeneffekten ist unverhältnismäßig. Im Fall der Sterbehilfe wird nach gegenwärtiger Gesetzeslage eine theoretisch angenommene Unmenschlichkeit in der Gesellschaft auf Kosten von Menschlichkeit an anderer Stelle in der Gesellschaft bekämpft. Man hält die eine (theoretisch angenommene) "Opfergruppe" für wichtiger als die andere. Menschen, die Hilfe benötigen in ihrem Wunsch nach Selbstbestimmung, gehen nach gegenwärtigem Stand häufig leer aus.
19. Man hat Angst vor Horrorszenarien und einer Fehlentwicklung in der Gesellschaft, doch wie ist der Ist-Stand zu bewerten, nach dem es verboten ist, einen Menschen gemäß seines eigenen Willens und eigens gewähltem Fluchtweg von seinem Leid zu befreien? Meiner Meinung nach – oder vielmehr meines Empfindens nach – ist dieser Ist-Stand genauso ein Horrorszenario.
20. Das Unterlassen von Sterbehilfe kann im Einzelfall dazu führen, dass der betroffene Mensch dazu gezwungen ist, ein Leben zu leben, das von ihm nur noch als Alptraum empfunden wird.
21. Man kann Menschlichkeit nicht erzwingen aber man kann Menschlichkeit zulassen.
Ich schreibe diesen Beitrag darüber hinaus auch als Europäer und Weltenbürger, der den Verbot der Sterbehilfe überall dort hinterfragt, wo dieses Verbot gegeben ist. Einen aktuellen Fall gibt es übrigens in England. Dort versucht Tony Nicklinson gerade ein Recht auf Todesspritze vor Gericht durchzusetzen. Seine Familie unterstützt ihn dabei.
1. Liebe kann sich in den unterschiedlichsten Formen ausdrücken.
2. Es ist der Mensch, der Verbote aufstellt. Für jedes Verbot, das der Mensch dem Menschen auferlegt, bedarf es eines guten Grundes. Gegner der Sterbehilfe stehen in der Pflicht der Rechtfertigung der von ihnen befürworteten, für alle gültigen Einschränkung. Die Behauptung, es gäbe kein Recht auf den Tod, reicht nicht aus. Vielmehr muss plausibel gemacht werden, mit welchem Recht man das Verbot aufstellt.
3. Es wäre dabei vor allem die Frage zu beantworten, mit welchem Recht sich ein Dritter in die Belange zweier Menschen einmischen darf, die sich in ihrem Interagieren vollkommen einig sind. Reicht dafür eine von Menschen geschaffene Satzung aus oder bedarf es dafür nicht vielmehr die Berufung auf göttliche Vollmacht? Mit welchem Recht kann eine Gesellschaft ihre Satzung über die Satzung stellen, die zwischen zwei Menschen in Frieden und Einigkeit ausgehandelt wurde, zumal wenn es sich dabei noch um eine persönliche und intime Angelegenheit handelt?
4. Die öffentlichen Diskussionen um Sterbehilfe gehen häufig einher mit dem Glauben, dass es ein "richtig" und ein "falsch" gibt, das für alle Menschen in gleicher Weise gültig ist. Es wird versucht, die richtige Sichtweise auf "das Leben" und die richtige Sichtweise auf "den Tod" herauszuarbeiten. Dieser Ansatz ist aber grundsätzlich fragwürdig und enthält im Keim bereits das Potential zur Intoleranz und Bevormundung. Eine Begründung für das Verbot der Sterbehilfe muss unabhängig von der eigenen Sicht auf "das Leben" und "den Tod" geschehen. Diese philosophischen Fragestellungen sind von jedem Menschen selbst zu beantworten. Die Bewertung des Lebens und des Todes, der Freude und des Leids, sind Bewertungsakte, die in den Zuständigkeitsbereich des einzelnen Individuums gehören.
5. Mit Blick auf die Religions- und Glaubensfreiheit bedeutet die gegenwärtige Regelung, dass die Religionsfreiheit empfindlich berührt wird. Es wird zwar formal die Freiheit gewährt, jede mögliche Position zu vertreten, die man zum Leben und seinen Mysterien haben kann, es werden aber ausgerechnet dort die aus den eigenen Überzeugungen hervorgehenden Handlungsabsichten eingeschränkt, wo sie – im Unterschied zu vielen anderen Problemthemen und Streitfällen des religiösen Lebens – in erster Linie nur den Handelnden selbst betreffen. Was ist aber die Religionsfreiheit wert, wenn man sie in wesentlichen Punkten nicht ausleben darf?
6. Sofern man geltend machen will, dass ein Suizid keine Handlung sei, die einen vornehmlich selbst betrifft, weil es ja Menschen im Umfeld gibt, die darüber traurig sein könnten oder in irgend einer anderen Art davon berührt und beeinflusst werden, so ist dazu anzumerken, dass man damit jegliche Abgrenzung und Eigenständigkeit des Individuums wegrelativiert hat. Ich persönlich bin der Meinung, dass hier gewisse "natürliche Ich-Grenzen" übersehen werden, wahrscheinlich wohl mit Absicht. Ohne die emotionalen Bindungen leugnen zu wollen, die von Mensch zu Mensch existieren, kann ich diese Sichtweise nicht nachvollziehen. Wer versteht, dass der einzelne Mensch ein Recht darauf hat, auf eine lange, risikoreiche Wanderung zu gehen und im Stile eines Abenteurers sogar sein Leben dabei auf's Spiel zu setzen, der versteht auch, dass der Mensch das Recht auf das große Abenteuer des Todes hat. Emotionale Bindungen, die von außen an ihn herangetragen werden, mag er freiwillig berücksichtigen, aber man kann ihn nicht dazu zwingen.
7. Wieso wird das Leben im allgemeinen positiv bewertet und der Tod im allgemeinen eher negativ? Vergleicht man die Übergangsprozesse, also das Gebären und das Sterben, zeigt sich eine gewisse Ähnlichkeit in Bezug auf das Leid und die Schmerzen, die hier mit im Spiel sind. Es zeigt sich eine gewisse Symmetrie, die den Schluss auf eine größere Symmetrie nahelegt. Unter dem Schutz der Religions- und Glaubensfreiheit steht es jedem Individuum offen, eine größere Einheit zwischen Leben und Tod anzunehmen.
8. Eine stumpfe Lebensbejahungsphilosophie, die nur die Denkregeln "Je mehr (länger), desto besser" in Bezug auf das Leben und "Je weniger (später) desto besser" in Bezug auf den Tod kennt, ist wiederrum nur eine von vielen möglichen Philosophien. Ich persönlich sage, sie wird der Wirklichkeit und vor allem dem Leben nicht gerecht.
9. Es ist erlaubt, dem lieben Gott eine Welt zuzutrauen, in der einem nach dem physischen Tod etwas Gutes, Schönes und Liebevolles erwartet. Dieser Glaube, der wiederrum durch die Religionsfreiheit geschützt ist, muss nicht auf Kosten des diesseitigen Lebens gehen. Es wird damit nicht gesagt, dass man sein diesseitiges Leben leichtfertig wegwerfen sollte. Sowohl das Leben als auch der Tod können als heilig betrachtet werden. Es muss nicht das eine gegen das andere ausgespielt werden.
10. Sofern das Leben und der Tod "normal" bzw. "natürlich" sind, so kann ohne weiteres auch die Sterbehilfe als "normal" oder "natürlich" betrachtet werden.
11. Es geht nicht um "Würde", es geht um Würde-Empfinden. Es geht nicht um eine vermeintlich objektive "Würde des Menschen" oder "Würde des Lebens", die irgendwelche geistigen Autoritäten für alle verbindlich festlegen. Es geht um das Würde-Empfinden des einzelnen. Der einfache und ungebildete Mensch hat nicht nur Mitspracherecht in dieser Frage, er hat das Definitionsrecht in Bezug auf sich selbst.
12. Man beachte den Unterschied zwischen einvernehmlichen Sex und dem grausamen Verbrechen einer Vergewaltigung. Der enorme Unterschied in der emotionalen Qualität und Wertdimension geht mit nichts anderem einher als dem auf den ersten Blick unscheinbaren Parameter der Freiwilligkeit. Was in dem einen Fall ein freudiges Ereignis ist, ist in dem anderen Fall ein abscheuliches und tragisches Verbrechen mit psychischen Langzeitfolgen für das Opfer.
Der "freie Wille" des einzelnen und die Forderung nach seiner Geltung und Respektierung ist also sehr ernst zu nehmen. Das gerade erwähnte Beispiel legt einen tiefen Zusammenhang zwischen dem freien Willen und dem Würdeempfinden des Individuuums nahe. Die Respektierung der "Würde" und die Respektierung des freien Willens und des Wunsches nach Selbstbestimmung sind so eng miteinander verzahnt wie die zwei Seiten einer Medaille.
13. "Die Freiheit des einen hört da auf, wo die Freiheit des anderen anfängt." Inwiefern schränkt ein Mensch, der den eigenen Tod wählt, die Freiheit eines anderen Menschen ein? Wieso soll es so selbstverständlich sein, dass eher dem Sterbewilligen die Einschränkung seiner Freiheit zugemutet wird? Wer steht auf der anderen Seite und müsste sonst eine Einschränkung hinnehmen, die für einschneidender und daher unzumutbar gehalten wird? Geht diese Einschränkung der anderen Seite dabei unmmittelbar vom Sterbewilligen aus?
14. Zur Veranschaulichung der philosophischen Willkür in der gegenwärtigen Rechtslage sei ein Gegenszenario entworfen: Eine Gesellschaft, in der die Unterlassung der Sterbehilfe als Unmenschlichkeit und Rechtswidrigkeit aufgefasst wird. Sie ist eine Straftat wie es im selben Staat selbstverständlich auch die Unterlassung der 1. Hilfe ist. Weiterhin wird der Versuch, einen Menschen vom Suizid abzuhalten, formal als Nötigung und Straftat bewertet.
Ich persönlich halte dieses Szenario für in keinster Weise unmenschlicher als die jetzige Realität. Im Gegenteil, ich halte es sogar für menschlicher und auf diese in meiner Persönlichkeit gründende Wahrnehmungsweise habe ich ein Recht. Trotzdem strebe ich eher die "Mitte" zwischen diesem Gegenszenario und der jetzigen Rechtslage an. Es kann selbstverständlich niemand dazu gezwungen werden, Sterbehilfe zu leisten. Auch Ärzte dürfen niemals diesem Zwang ausgesetzt werden – genausowenig wie sie daran gehindert werden dürfen, wenn sie freiwillig dazu bereit sind. Des weiteren sollte man natürlich auch keinen Menschen dafür bestrafen, wenn er aus Gewissensgründen einen Menschen vom Suizid abhalten wollte.
15. Die Gesellschaft bedarf keiner über das Prinzip des freien Willens und der Selbstbestimmung hinausgehende Übereinkunft bezüglich "objektiv gegebener Werte". Der Versuch, über dieses Prinzip hinaus zu gehen, führt zu Intoleranz, Bevormundung und Einschränkung der Religionsfreiheit. Siehe dazu auch das Projekt "Weltethos" und die "Goldene Regel": Verhalte Dich gegenüber anderen so, wie Du es selbst wünschen würdest.
16. Ein offenerer Umgang mit dem Thema Freitod in der Gesellschaft könnte diesen in einigen Fällen auch verhindern, weil Menschen, die diesen Weg für sich erwägen, leichter Vertrauen finden und dann eher Gesprächspartner suchen. Wer auf eine absolute Bejahung der Selbstbestimmung vertrauen kann und keine Freiheitsberaubung befürchten muss, kann sich nicht nur aus taktischen Gründen leichter öffnen, sondern er kann auch menschlich ein intensiveres und liebevolleres Verhältnis zu seinem Gesprächspartner entwickeln.
17. Die Politik hat grundsätzlich immer die Pflicht, ein differenziertes Eingreifen zu versuchen und darf dafür keine Kosten und Verwaltungsarbeit scheuen. Sie muss versuchen, für diejenigen, die von einer Freiheit profitieren, diese zu gewähren, während sie diejenigen, die darunter leiden könnten, mit angemessenen Mitteln beschützt.
18. Das Totalverbot einer Freiheit zur Vermeidung von unerwünschten Nebeneffekten ist unverhältnismäßig. Im Fall der Sterbehilfe wird nach gegenwärtiger Gesetzeslage eine theoretisch angenommene Unmenschlichkeit in der Gesellschaft auf Kosten von Menschlichkeit an anderer Stelle in der Gesellschaft bekämpft. Man hält die eine (theoretisch angenommene) "Opfergruppe" für wichtiger als die andere. Menschen, die Hilfe benötigen in ihrem Wunsch nach Selbstbestimmung, gehen nach gegenwärtigem Stand häufig leer aus.
19. Man hat Angst vor Horrorszenarien und einer Fehlentwicklung in der Gesellschaft, doch wie ist der Ist-Stand zu bewerten, nach dem es verboten ist, einen Menschen gemäß seines eigenen Willens und eigens gewähltem Fluchtweg von seinem Leid zu befreien? Meiner Meinung nach – oder vielmehr meines Empfindens nach – ist dieser Ist-Stand genauso ein Horrorszenario.
20. Das Unterlassen von Sterbehilfe kann im Einzelfall dazu führen, dass der betroffene Mensch dazu gezwungen ist, ein Leben zu leben, das von ihm nur noch als Alptraum empfunden wird.
21. Man kann Menschlichkeit nicht erzwingen aber man kann Menschlichkeit zulassen.
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