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Montag, 6. Juli 2009
 Blatt / Kategorie: Autobiographisches
Am 6. Dezember 2003 überquerte ich einen sumpfigen Graben von gut 3m Breite in bemerkenswerter Weise. Es wäre dazu gewiss nicht gekommen, wenn ich nicht in Begleitung einer höchst charmanten Dame gewesen wäre.
Nach einem gut einstündigen Spaziergang durch ein Areal, das man die Rieselfelder nennt, hatten wir einen Weg eingeschlagen, der rechtwinkling auf den erwähnten Graben führte. Vor dem Graben führte ein weiterer Weg vorbei, der sich von links nach rechts erstreckte, die Bezeichnung “Weg” aber kaum noch verdiente. Er war äußerst uneben und aufgrund von Bodenfrost gleichzeitig steinhart, sodass er kaum nutzbar war. Ihn zu begehen hätte bedeutet, jeden einzelnen Tritt genau kontrollieren zu müssen und seine Augen keinen Moment vom Boden abwenden zu dürfen. Unter diesen Umständen hätte wahrscheinlich ein jeder seinen ersten Gedanken an die Möglichkeit geheftet, den Graben zu überqueren, umso mehr als dass auf der anderen Seite nicht nur ein gangbarer Weg zu sehen war, sondern dieser im Gegensatz zu unserer Seite auch noch sonnenbeschienen war. Zwei Baumreihen an jeder Seite des Grabens warfen ihre Schatten auf uns, was bei Temperaturen um die Null Grad und leichtem Wind zusätzlich ins Gewicht fiel. Die Szene war stark “dualistisch”: Es gab zwei Seiten. Zum einen, die dunklere und kältere mit dem beschwerlicheren Weg, zum anderen, die hellere, etwas wärmere mit dem sehr viel leichteren Weg.
Es war zwischen uns keine Frage, dass wir die andere Seite unbedingt erreichen wollten; der Gedanke der Umkehr kam uns nicht in den Sinn. Von dem Punkt aus, an dem wir standen, gewissermaßen eine T-Kreuzung vor dem Graben, war unsere natürliche Orientierung nach links gerichtet, da wir uns auf dem Gelände vorher eine ganze Weile von rechts her angenähert hatten. Blickte man den Graben nur ca. 30m links entlang, wurde dieser unterbrochen von einem wohl menschlich geschaffenen Übergang. An dieser Stelle hätte man den beschwerlichen Weg auf unserer Seite verlassen können und ganz bequem zur sonnigen Seite wechseln können, bevor sich der Graben dann wieder auftat.
Es gab also zwei Möglichkeiten, um auf die andere Seite zu gelangen: geradeaus über den Graben, sofern möglich, oder links den beschwerlichen Weg. Allerdings hielt ich die Annahme, dass der Graben auch wirklich überquerbar ist, bei genauerem Hinsehen für völlig illusorisch. Dass ich den Vorschlag trotzdem machte, lag nicht etwa an einer vagen Ahnung in mir, sondern daran, dass mir diese Tendenz anhaftet, manchmal Dinge zu sagen und zu denken, die vollständig unsinning sind. Außerdem war ich in etwas abenteuerlustiger Stimmung, was seine Gründe in der Gegenwart dieser höchst charmante Dame hatte. Trotzdem war ich mit einem Teil von mir noch genug bei Verstand bzw. bei Sinnen, um über die unverzögerte und eifrige Bejahnung, mit der sie reagierte, erstaunt zu sein. Wie konnte man so einem unsinnigen Vorschlag nur ernsthaft zustimmen? Jeder Blinder hätte schon von oben sehen können, dass dort unten nichts als Sumpf herrschte, und zwar von der eher flüssigen Sorte.
Da sich mein vernünftiger Teil aber nicht durchsetzte, und ich dachte, dass man ja erstmal runter gehen kann, begann ich schließlich den steilen Abstieg. Bis zum Sumpf unten waren es ca. 2,5m. Wo die Schräge zuende war, gab es nur einen schmalen Streifen am Rand des Sumpfes, doch hatte man bereits dort schon sehr matschige Erde unter sich.
Ich hatte nur kurz Zeit mich umzugucken, denn meine Begleitung ließ nicht lange auf sich warten. Wie ein vernachlässigtes Stadtkind, das noch nie einen Sumpf gesehen hatte und nicht den wässrigen Schimmer auf dem Bereich vor ihr beurteilen konnte, machte sie, nachdem sie unten angekommen war, einen großen, entschiedenen Schritt vorwärts, und versank bei einem lauten Schrei aus Überraschung und sogar ein bißchen Vergnügen mit einem Bein fast bis zum Gesäß. Es folgte der mehr oder weniger vergebliche Versuch, sich durch Einsatz beider Beine wieder rückwärts aus dem Sumpf zu bewegen, dann das Ausstrecken meiner Hand, ihr Griff in die meine und die Rettung an den Rand des Sumpfes.
Selbstverständlich hielt ich die Sache mit der Grabenüberquerung nun für erledigt. Viel eindrücklicher konnte man nicht scheitern. Doch meine Begleitung verblüffte mich. Es kam ihr nicht in den Sinn, diesen Gedanken aufzugeben. Noch an den steilen Hang gelehnt, den wir gerade heruntergeklettert waren und an den sie sich jetzt lehnen konnte, ohne sich irgend welche Sorgen mehr um ihre Kleidung machen zu müssen, bedeutete sie mir mittels Gesten und knappen Worten, dass wir dort rüber müssten. Die einzige Richtung lautete für sie immernoch nur: geradeaus. Es schien mir wie ein Befehl zu sein und ich fühlte mich in die Position gedrängt, diese Aufgabe meistern zu müssen. So versuchte ich mein Bestes, obwohl ich nicht im Geringsten an eine Lösungsmöglichkeit glaubte. Alles, was im Rahmen des Gegebenen gerade noch sinnvoll erschien, war nichts weiter, als den vor uns liegenden Sumpf mit Adleraugen abzusuchen. Noch bis zu dem Moment, an dem mir plötzlich eine kleine ca. 20x20 cm große Stelle auffiel, aus der mitten im Sumpf und praktisch direkt vor uns zwischen all den Laubblättern und der matschigen Erde ein paar Grashalme wuchsen, war selbst dieses Absuchen ein rein mechanisches Verrichten ohne jeden Glauben an den Sinn der Aktion. Ab diesem Moment aber änderte sich schlagartig meine Einschätzung der Lage. Aus der “absoluten Unmöglichkeit” wurde plötzlich ein “vielleicht” mit sehr viel Hoffnung. Dieser kleine von Grashalmen bewachsene Bereich dort vor unseren Augen könnte im Gegensatz zu all dem anderen Matsch ohne Grashalme fest sein. Man musste sehr genau hinschauen, um ihn zu sehen, doch hatte man ihn einst erblickt, erweckte er den Eindruck von Stabilität.
In dieser sonderbaren Szene mit dieser für mich völlig unerwarteten Wendung kostete es mich dann kaum noch Überwindungskraft, den Sprung zu wagen. Ich hätte mich mit diesem Satz vielleicht bis zum Hals in den Sumpf befördern können, doch so war es nicht. Die Stelle war in der Tat fest. Auch war sie ideal gelegen, nämlich genau in der Mitte zwischen beiden Sumpfufern, sodass es zwar eine gewisse Anstrengung und Konzentration brauchte, um aus dem Stand auf sie zu springen, doch handelte es sich nun um eine schaffbare Entfernung.
Ich nahm mir nun ein bißchen Zeit, um diesen ungewöhnlichen Standpunkt zu genießen. Das Sonnenlicht war hier bereits sehr viel stärker, da man sich nicht mehr in der Schattenlinie der gegenüberliegenden Baumkronen befand, die am dichtesten Schatten spendeten. Außerdem konnte ich aus exakter Mittelposition den Graben seitwärts entlang gucken, und so bot sich mir das entsprechende symmetrische Panorama: Der sumpfige Boden lag wie eine Straße vor mir und rechts und links führten die steilen Hänge hinauf, an deren oberen Rändern Bäume und Sträucher wuchsen. Da ich mich nach links gewandt hatte, konnte ich auch frontal auf die 30m entfernte Unterbrechung des Grabens schauen, zu der ebenfalls ein steiler Hang hinaufführte.
Ich drehte mich nun weiter zurück und blickte meine Begleitung an. Offenbar hatte sie keinen Sinn dafür, den Moment zu genießen. Sie schien aus irgend einem merkwürdigen Grund in Eile zu sein und drängte mich weiterzuspringen, sodass sie folgen konnte. So sprang ich weiter und wartete schließlich am anderen Sumpfufer. Sie nahm jeden Sprung ohne lange zu zögern, wenn sie sich aufgrund ihrer geringeren Körpergröße auch jeweils etwas mehr sammeln und anstrengen musste. Zu keinem Moment aber war ihr nach kurzem Innehalten, weder auf der Mittelinsel des Sumpfes, noch am anderen Ufer. Sie schien fast ein bißchen besessen von der Aufgabe, den Sumpf bzw. Graben zu überwinden. Als sie den Sumpf überquert hatte, überholte sie mich quasi, schoß den steilen Hang hinauf und brach sich mit Schwung durch die dort angrenzenden Sträucher.
Nun war es an mir, ihr zu folgen. Seltsamerweise bereitete mir der Aufstieg wesentlich mehr Probleme als ihr. Während sie wie von der Tarantel gestochen hochgeklettert war, ließ ich es mit Ruhe angehen und plante jeden Tritt, was sich als falsche Taktik herausstellte. Es war hier eher rohe Kraft als Systematik erforderlich, vor allem als es darum ging, sich durch das letzte Hindernis der Strauchzweige zu brechen, die sich widerspenstig zwischen mir und dem durchflutenden Sonnenlicht stellten. Letztendlich schaffte natürlich auch ich diesen Aufstieg und stand wenig später mit ihr zusammen auf der anderen Seite des Grabens.
Wir hatten es also geschafft. Wir waren nun auf der “sonnigen Seite” und sie quittierte dies mit den Worten “Dies war es wert.” Der Matsch und die Nässe an ihren Beinen und Füßen war für sie Nebensache. Auch maß sie im Gegensatz zu mir der ganzen Szene wenig Bedeutung bei.

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